Marco Russ kehrte gegen den HSV zurück und gab sofort die Richtung vor.
Marco Russ kehrte gegen den HSV zurück und gab sofort die Richtung vor.

Es gibt wohl diese Momente im Leben eines Stadionbesuchers, die nie wieder in Vergessenheit geraten werden. Es lief die letzte Minute in der DFB-Pokal-Viertelfinalbegegnung zwischen Eintracht Frankfurt und Arminia Bielefeld. Die Hessen schleppten ihre 1:0-Führung mehr schlecht als recht in Richtung Schlusspfiff, als sich auf einmal alle Zuschauer von ihren Plätzen erhoben und – teilweise mit einem Tränchen in den Augen – zur Trainerbank blickten. Minutenlang stand dort Marco Russ und wartete auf seine Einwechslung. Als der Ball endlich die Seitenauslinie überquerte, war es soweit. Ein Eigengewächs ging und ein anderes kam: Aymen Barkok verließ den Platz – und für Russ endete in diesem Moment endgültig eine lange Leidenszeit. Es war eine Gänsehautatmosphäre, die eine schwache Partie komplett in den Hintergrund treten ließ.

„Ich bin froh, dass ich wieder Teil der Mannschaft bin“, sagte der 31-Jährige im Gespräch mit „hr-iNFO“ und setzte sich sogleich das Ziel, weiter zu arbeiten und „mein Level zu verbessern.“ Vor neun Monaten kreisten seine Gedanken überhaupt nicht mehr um den Fußball. Die Diagnose, die ihn einen Tag vor dem Relegationshinspiel gegen den 1. FC Nürnberg am 23. Mai 2016 ereilte, war ein Schock: Hodenkrebs. Nachdem sich die NADA, die Nationale Doping Agentur, beim Klub meldete und mitteilte, dass die Dopingprobe von Russ positiv ausfiel, stand für ihn sofort fest, „dass es etwas anderes sein muss. Ich kam nie mit irgendwelchen Ärzten, die solche Mittel verarbreichen, in Verbindung.“ Die Eintracht-Verantwortlichen drängte daraufhin auf das Ergebnis der Untersuchungen. Sportdirektor Bruno Hübner, Ex-Vorstandsboss Heribert Bruchhagen und Justiziar Philipp Reschke bestanden darauf, „dass die NADA klar machen sollte, ob es Doping war oder anderweitig hätte produziert werden können.“

Kurioser Spielverlauf als glückliche Fügung

Teammanager Christoph Preuß fuhr mit Russ direkt zum Arzt und eine Stunde später stand fest, „dass Krebs daraus entstanden ist.“ Der Mann mit der Nummer vier auf dem Rücken nahm dennoch am Hinspiel gegen die Cluberer teil und erlebte einen denkwürdigen Abend: Erst unterlief ihm ein Eigentor, später holte er sich eine Gelbsperre ab. „Im Gesamtpaket war es aus meiner Sicht irgendwie lustig. Im Rückblick ist auch alles gut gelaufen. Vielleicht hätte ich sonst das Rückspiel noch gemacht und die Operation aufgeschoben, was dann gar nicht gut gewesen wäre. Ich bin froh, wie alles gelaufen ist“, wollte er keinen negativen Gedanken an den Verlauf dieser Partie mehr verschwenden. Das Rückspiel erlebte er nach der Operation im Krankenhaus mit und lobte das Team: „Meine Mitspieler sind sensationell mit der Situation umgegangen und haben zurecht den Klassenerhalt geschafft.“

Die Monate nach der Operation kapselte sich der gebürtige Hanauer komplett von der Öffentlichkeit ab. „Präsent war, gesund zu werden! Ich habe keine Sekunde an Fußball gedacht“, gab er zu. Russ trat nicht mehr vor die Tür und zeigte sich auch nicht in den sozialen Medien. Am 14. August war es dann bei der Saisoneröffnungsfeier überraschend so weit: Noch gezeichnet von der Krankheit präsentierte sich das damals noch kahlköpfige Eigengewächs der Eintracht den Fans und wollte damit zeigen, „dass ich noch da bin!“ Der monotone Alltag wurde für einen Moment aufgebrochen, die Erleichterung darüber, dass die Entfernung des Hodens eine Streuung in Richtung Bauchbereich verhinderte, war riesengroß. Am 20. Oktober verkündete Trainer Niko Kovac freudestrahlend auf der Pressekonferenz: „Marco Russ ist wieder gesund.“ Es war eine Nachricht, die nicht nur Fans der Eintracht begeisterte, sondern deutschlandweit für Freude sorgte.

Bei der Saisoneröffnungsfeier zeigte sich Russ erstmals wieder nach seiner OP.
Bei der Saisoneröffnungsfeier zeigte sich Russ erstmals wieder nach seiner OP.

„Ich hatte nie die Sorge, es nicht mehr zu schaffen!“

Nach der Winterpause reiste er mit ins Trainingslager nach Abu Dhabi und kämpfte sich seitdem geduldig Schritt für Schritt zurück. Nach dem Kurzeinsatz im Pokal folgte eine halbe Stunde am 24. Spieltag gegen den FC Bayern München. Als es bereits 0:3 stand, ersetzte der Abwehrmann Makoto Hasebe. Der Japaner verletzte sich schwerer als zunächst angenommen und fällt bis Saisonende aus. Russ kam daher viel schneller als gedacht zu seinem Startelfeinsatz gegen den Hamburger SV. „Ich hatte nie die Sorge, es nicht mehr zu schaffen. Die Ärzte waren von Beginn an positiv und haben jegliche negativen Prognosen ausgeklammert“, sagte er – sie sollten glücklicherweise Recht behalten.

Beim 0:0 gegen den HSV zeigte der als Libero aufgebotene Russ nach schleppender Anfangsphase seine Qualitäten. Er räumte die Bälle, die in den Strafraum kamen, gnadenlos ab und war im Zweikampf kaum zu überwinden, wie 80 Prozent gewonnene Duelle aufzeigen. „Natürlich fehlt noch ein bisschen“, wusste der Vize-Kapitän die Lage realistisch einzuschätzen. Ohne die schwere Verletzung Hasebes wäre er wohl noch nicht in die Startelf gerückt: „Der Einsatz war der personellen Lage geschuldet.“ Nach der Rückkehr von Jesús Vallejo wird er sich wohl zunächst auf der Bank wiederfinden. Für ihn überhaupt kein Problem, „ich kann nicht jedes Spiel von der Kraft her bestreiten.“

Platzt der Knoten am Samstag?

Gegen Borussia Mönchengladbach läutet die Eintracht den Endspurt einer Saison ein, die lange Zeit so hervorragend verlief. Die Delle mit nur einem Zähler aus den vergangenen sechs Partien hat die Hessen allerdings auf Platz sieben abrutschen lassen. Am Samstagabend könnte der Konkurrent vom Niederrhein jedoch auf sieben Zähler distanziert werden. „Wir wollen vor allem die Heimspiele gewinnen und dann sehen, was dabei zum Schluss rumkommt“, gibt Russ die Richtung vor. Vorne fehlte zuletzt zwar die Befreiung, „aber wir haben Chancen! Ich kenne da auch schon andere Zeiten, als wir überhaupt nicht in den Sechzehner kamen. Jetzt haben wir aber Möglichkeiten und ich hoffe, dass der Knoten am Samstag platzt.“

Marco Russ weiß, wie sich Europa anfühlt, schließlich war er in den Spielzeiten 2006/07 und 2013/14 dabei, als sich die Hessen für den internationalen Wettbewerb qualifzierten. Wiederholung ist ausdrücklich erwünscht: „Ich gönne unserer Mannschaft den Einzug in die Europa League – davon hätte Marco Russ auch etwas in der nächsten Saison!“

- Werbung -

Keine Kommentare

- Werbung -