Es war im Oktober 2021 als ein gewisser Timothy Chandler den Kollegen vom „kicker“ in typisch selbstbewusster Art seinen größten Wunsch äußerte: „Mit Eintracht Frankfurt noch mal einen Pokal zu gewinnen, wäre etwas Tolles.“ Ob er damals wohl schon wusste, wie realistisch und vor allem zeitnah er dieses Bedürfnis gestillt bekommt? Wir wissen es nicht. Heute, ein gutes halbes Jahr später darf sich der mittlerweile 32-Jährige Europa League Sieger nennen und resümiert im großen „11 Freunde“-Interview die magische Nacht von Sevilla als die Eintracht erstmals nach 42 Jahren wieder einen internationalen Titel nach Frankfurt holte.
Jeder Eintracht-Fan weiß, wie groß der Run auf Tickets in diesen Klub ist. Neben einer ausgeprägten Kreativität ist vor allem ein großer Geldbeutel vor dem Europa League Finale gefragt gewesen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Spieler überhäuft wurden mit Kartenwünschen. Chandler verhandelte mit Kapitän Sebastian Rode im Vorfeld ein Kartenkontingent für die Mannschaft aus, machte aber bereits im Vorfeld bei seinem Umfeld klar: „Ich kümmere mich nur um den engsten Kreis, um meine Familie. Danach hatte ich noch ein paar übrig, die habe ich Fans gegeben, die immer im Block stehen.“ Die Verbindung zu ihm und der aktiven Fanszene besteht seit Jahren und ist sehr ausgeprägt: „Ich bin ja hier aufgewachsen! Ich kenne sehr viele von den Jungs, die ganz vorne im Block stehen. Natürlich reden wir, trinken mal einen Kaffee oder schreiben uns Sachen über WhatsApp. Manchmal leite ich auch Botschaften an die Mannschaft weiter.“
„Ich wollte alles geben, damit die Mannschaft das Ding holt, ob von der Bank, von der Tribüne, vom Dach des Stadions oder aus einem Taxi raus.“
Während sich über 50.000 Frankfurter auf dem Weg nach Sevilla machten, bereitete sich das Team auf den Gegner Glasgow Rangers vor. Klar, ein internationales Finale um einen Titel ist für die meisten Profis eine once in a lifetime chance. Doch Oliver Glasner wollte explizit den Rhythmus nicht im Vergleich zu „normalen“ Europa League Spielen verändern. Nur zum Abschluss der Teambesprechung, kurz vor der Abfahrt zum Stadion, wurde im Hotel noch ein schönes Video mit Highlights aus der Europa League Saison eingespielt. „Es sollte uns zeigen, was wir als Mannschaft schon alles geschafft haben“, so der Rechtsverteidiger. In der Mannschaft bemerkte er schon eine gewisse Anspannung, deshalb versuchte er mit seiner lockeren und kommunikativen Art die Stimmung im Team hochzuhalten, ohne dabei die Ernsthaftigkeit zu verlieren. Dass Chandler im Finale auf dem Feld zwar keine Minute zum Einsatz kam und über weite Strecken der Saison nur der Bankplatz blieb, ist für ihn keine Enttäuschung: „Ich habe nur daran gedacht, einen Europapokal in die Stadt zu holen. Frankfurt ist meine Heimat – dieses Spiel war für mich das Größte. Ich wollte alles geben, damit die Mannschaft das Ding holt, ob von der Bank, von der Tribüne, vom Dach des Stadions oder aus einem Taxi raus. Ich glaube, ich habe mindestens genauso geschwitzt wie die Jungs auf dem Platz, denn irgendwann kam der vierte Offizielle und meinte, ich müsste mich jetzt endlich hinsetzen. Ich sagte zu ihm: „Das ist nicht einfach für mich, das hier ist ein Finale!“ Wenn ich sitzen muss, wackele ich die ganze Zeit mit den Beinen oder nerve die anderen. Da bin ich wirklich schlimm. Deswegen sitzt Gonçalo [Paciencia] meistens neben mir, der kennt das schon.“ Chandler ist einer dieser Spieler, denen zwar nicht die meisten Spielminuten gehören, deren Wert auf und neben dem Platz aber immens hoch ist. Der Titelgewinn ist unabdingbar verknüpft mit allen Teammitgliedern der SGE – der Zusammenhalt aller Teammitglieder ist ein zentraler Identifikator für diesen Erfolg.
Chandler verrät: „Elfmeter geübt mit Spielern, die die Eier für sowas haben.“
Ein Scheitern im Finale war für Chandler zu keinem Zeitpunkt eine Option: „Ich bin morgens aufgestanden und hatte keinen Zweifel, dass wir das Spiel gewinnen. Ich hatte ja schon vor dem West-Ham-Spiel jedem gesagt, dass wir diesen Pokal nach Hause bringen. Ich war mir einfach total sicher, weil ich die Jungs ja die ganze Saison über erlebt habe. Deswegen habe ich auch im Spiel nie auf die Uhr geschaut, sondern einfach nur gewartet, bis wir ein Tor schießen. Ich habe sogar geglaubt, wir würden das Elfmeterschießen vermeiden. Ehrlich:
Dieser Sieg war bei mir einfach fest eingeplant, so überzeugt war ich vom Team. Auch wenn die Rangers ein wirklich starker Finalgegner waren.“ Auch die letzten Minuten der Verlängerung konnten daran keinen Abbruch daran tun. Nach Kevin Trapps Monster-Parade in der 118. Minute war er sich sogar zu „110% sicher, dass wir diesen Pokal holen.“ Und im Elfmeterschießen? Da vertraute er auf die Besonderheit der Linksfüßer Christopher Lenz, Ajdin Hrustic und Filip Kostic, die für eine Torwart immer schlechter auszurechnen sind. Vor allem die beiden erstgenannten sind wieder ein Argument dafür, dass der Titelgewinn von allen Spielern getragen wurde. „Das zeigt unseren Zusammenhalt und den Charakter der Jungs. Wir haben vielleicht oft mit derselben Elf gespielt, aber wir harmonieren als Team, deswegen haben wir auch diesen Pokal geholt. Außerdem hatten wir Elfer trainiert. Ich wusste also, dass sie cool genug sind und vor allem die Eier für so etwas haben.“ Vor dem allerletzten Elfmeter durch Rafael Santos Borré besitzt er allerdings noch heute gehörigen Respekt: „Ich hatte keinen Zweifel, dass er trifft. Der Junge hat in Argentinien gespielt, bei River Plate. Ich wusste also: Wenn einer die Nerven hat, dann dieser Typ. Aber wie locker er das Ding in den Winkel geschweißt hat, davor hatte ich dann doch Respekt.“ Die Sekunden und Minuten danach waren eine Mischung aus Ekstase und völliger Schwerelosigkeit. Und Chandler? Er war es, der den mitgereisten Fans im Block als erstes die Trophäe überreichen durfte. „Die Jungs haben zu mir gesagt: „Timmy, mach du das. Du bist schon so lange im Verein, bring den Pokal zu den Fans.“ Sie haben sogar gemeint, ich wäre eine Legende. Das hat mich sehr gefreut.“ In diesem Moment schließt sich der Kreis und Chandlers Wunsch ging in Erfüllung.
„Ich habe ihnen gesagt: Ihr habt keine Ahnung, was morgen in Frankfurt abgeht!“
Und im Anschluss ging die große Feier erst so richtig los. Nach einer langen und partyreichen Nacht ging es für den Tross zurück nach Frankfurt. „Zwischendurch war es kurz etwas ruhiger, weil viele ja doch kaputt waren. Da mussten Gonçalo und ich auf die Bühne, um ein paar Eintracht-Lieder zu singen. Dann war das Ding wieder am Laufen. Davon gibt es ein paar schöne Videos“, erinnert er sich. Der eine oder andere, so verrät er, hatte sogar ein bisschen Angst nicht durchzuhalten, „aber am Ende ist man mental so aufgedreht, dass man die Müdigkeit nicht spürt. Weil ich das vom Pokalsieg schon kannte, habe ich die Jungs noch mal heißgemacht. Ich habe ihnen gesagt: „Ihr habt keine Ahnung, was morgen in Frankfurt abgeht!“ Und schließlich waren alle so heiß, dass keiner auch nur für eine Sekunde die Augen zumachen wollte. Außer Makoto Hasebe natürlich. Der hat im Flieger tatsächlich geschlafen. Ich glaube, wenn sein Haus in Flammen stünde, würde er noch mal kurz ein Nickerchen
machen und dann erst rausrennen.“
„Wir verstehen das erst, wenn Real Madrid kommt – was für ein geiles Spiel!“
Und jetzt? Knapp vier Wochen später kann er es immer noch nicht so richtig fassen, was da eigentlich passiert ist. Die positiven Auswirkungen des Triumphes sind weiter allgegenwärtig: „Es wird immer schwieriger, einfach nur durch die Stadt zu gehen, jeder will mit einem reden. Gestern parkte ich den Wagen in der Tiefgarage, da kommt ein Mitarbeiter der Waschstraße und sagt: „Chandler, du hast uns glücklich gemacht. Lass mich jetzt deinen Wagen so sauber machen wie den Pokal!“ Aber um ganz ehrlich zu sein: So richtig kann ich es immer noch nicht glauben. Wenn jemand meine Tochter fragt „Was hat der Papa gewonnen?“, dann sagt sie sofort: „Europapokal!“ Doch ich glaube, wir werden erst wirklich verstehen, was da
passiert ist, wenn die Vorbereitung losgeht. Oder vielleicht erst, wenn es um den Supercup geht. Gegen Real Madrid. Was für ein geiles Spiel!“ Chandler wird es miterleben. Auf dem Platz oder daneben – als Legende eben. Und wer weiß? Vielleicht darf er da bereits den nächsten Pokal in die Höhe strecken und im Anschluss die Fans daran teilhaben lassen.
10 Kommentare
Prima Kerl, der Timmy!
Gänsehaut beim Lesen...da kommt wieder alles hoch....leider kann ich hier das foto mit Timmy, mir und dem Pokal nicht hochladen...das war der perfekte Abschluss einer unglaublichen, emotionalen und anstrengenden Reise..einfach unvergesslich...once in a lifetime!
Wie wichtig diese Chandlers für ihre Teams sind, wird zu schnell vergessen....Titel holen nicht 22 Weltklasse Spieler sondern 22 "Freunde"....die Mischung abseits des Platzes mit den richtigen Charakteren ist immens wichtig....da freut es mich umso mehr, Jungs wie Timmy zu haben, der locker flockig neben dir am Hanauer Weihnachtsmarkt fürs Riesenrad ansteht...bodenständig mit dem richtigen Gespür und Verbindung zur Stadt
Danke!!
@2: wenn es dir wichtig ist, kannst du ein Foto auf Youtube hochladen und den link hier teilen ;-)
Apropos youtube, und passend zu Timmy's Optimismus, dieses Video mit ihm und Daichi, aufgenommen ein paar Tage vor dem Finale
https://youtube.com/shorts/uKDDqc5gdQw?feature=share
@3
So wichtig nun auch wieder nicht ;)
Hätte einfach zum Artikel gepasst...
Ein Traumjob!
@4: Kamada aber auch geil, kennt man so von ihm gar nicht
Danke so schnell hat man pipi in den Augen.
Hatte aufgrund der Entfernung nur einmal Kontakt im Testspiel in Offenburg. War mit meinem Schwager und seinem Bekannten auf den USA da. Er wollte mit ihm ein Selfie, was er auch sofort bekam. Er hat schon eine Aura, die sehr positiv ist. Da merkt man sehr, wie wertvoll er für uns ist, ohne Zweifel.
Danke fürs Aufpassen des Pokals, damit er nicht verloren ging inzder Partynacht
Toller emotionaler Bericht. Super wie er den Verein lebt.
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